Wer die digitale Transformation beim Unternehmen beginnt, hat schon verloren. In der Zwischenzeit erobern digitale Produkte von Unternehmen wie Google, Apple, Facebook und Amazon (GAFA) den Alltag der Nutzer. Sie dringen erfolgreich in Branchen wie Banken, Versicherungen, Telekommunikation, Handel und Automobil ein. Vielen Unternehmen droht die Beziehung zu ihren Kunden zu entgleiten. Sie werden austauschbar.
Die digitalen Pure Player und hier insbesondere die GAFA sind zum Gatekeeper zwischen Unternehmen und Nutzern geworden. Gemeinsam verschieben GAFA Wertschöpfung und Margen immer mehr zu ihren Gunsten. Aus dieser Umklammerung ergibt sich die Notwendigkeit, Produkte zu entwickeln, die unabhängig von den GAFA sind. Produkte, die sich ohne Reibungswiderstand in den Alltag der Menschen integrieren.
Vieles, was derzeit unter dem Stichwort „Digitale Transformation“ verhandelt wird, konzentriert sich stark auf Kultur und Prozesse, flache Hierarchien und agile Methoden. Das alles ist per se nicht völlig falsch, löst aber das Problem nicht. Neue Prozesse und eine digitale Kultur sind zwar notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen für den Erfolg im digitalen Zeitalter.
Kultur allein bezahlt keine Gehälter. Die Zukunft liegt nicht darin, die Methoden und den kulturellen Habitus von Start-ups zu simulieren. Wesentlich ist es vielmehr, die richtigen Produkte zu entwickeln: digitale Produkte, die eine Chance auf einen Blockbuster-Erfolg haben und damit auch einen signifikanten Umsatz- und Ergebnisbeitrag leisten können – transformationale Produkte.
Solche digitalen Blockbuster-Produkte zu entwickeln ist hart, nicht linear planbar, oft frustrierend, und auf dem Weg dorthin müssen immer wieder schwierige Entscheidungen getroffen werden. Hinzu kommt die Unsicherheit, welche der möglichen Produktinnovationen sich schließlich am Markt durchsetzen werden. Es ist unmöglich, am Anfang des Weges zu bewerten, ob und warum sich ein Produkt behaupten wird.
Der Blick in die Start-up-Szene lehrt: Nur wenige von vielen Tausend Start-ups verändern tatsächlich die Welt. Ja, die allermeisten Start-ups scheitern, obwohl sie eine digitale Kultur haben und mit agilen Methoden arbeiten. Auch bei gescheiterten Start-ups gibt es keine Wasserfallmodelle, keine abgeschotteten Silos und keine strengen Hierarchien. Das Wie ist selten der Schlüssel zum Erfolg.
Statt sich auf Kultur und Prozesse zu fokussieren, müssen etablierte Unternehmen eine Pipeline künftiger digitaler Erfolgsprodukte aufbauen, um ihre Überlebenswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Sie können nicht wie Start-ups nur auf ein Pferd setzen. Es braucht einen Mix aus Eigenentwicklung, Fremdvergabe und Zukäufen. Ähnlich arbeiten auch Risikokapitalgeber, die ein Portfolio von Start-ups aufbauen.
Erfolgreiche digitale Produkte transformieren das Verhalten der Nutzer. Sie verändern Gewohnheiten. Es geht um Relevanz im Alltag der Nutzer. Die Wertschöpfungskette dreht sich in der digitalen Ära um: Die höchste Wertschöpfung entsteht an der Nutzerschnittstelle – darum ist deren Kontrolle so wichtig. Mit dem veränderten Nutzerverhalten wandelt sich auch der Markt und schließlich – bei hinreichendem Erfolg – auch das eigenen Unternehmen.
Das Unternehmen verändert sich in diesem Prozess zuletzt – und eben nicht zuerst. Die digitale Transformation findet zuerst beim Nutzer statt, dann im Markt und zuletzt im Unternehmen. Transformationale Produkte zu entwickeln, heißt im Kern, einen innovativen Kundennutzen zu entdecken, eine schlüssige Produktform zu finden und ein Geschäftsmodell zu entwickeln.
Transformationale Produkte transformieren die Erwartungshaltung und das Verhalten von Nutzern und verändern das Wertschöpfungsmodell eines Unternehmens. Sie müssen einen überragenden Nutzenvorteil aufweisen und das Niveau der Erwartung an die Produktkategorie verändern – im Gegensatz zu lediglich inkrementellen Verbesserungen. Die Produkte führen zu einer nachhaltigen Verhaltensänderung der Nutzer. Und schließlich besitzen sie das Potential, einen signifikanten Umsatz- und Ergebnisbeitrag zu liefern oder wenigstens das alte Geschäftsmodell robust abzusichern.
Im Kern sind transformationale Produkte ein Bündel von digitalen Diensten – mit einer optionalen physischen Komponenten – und bieten einen bisher nicht entdeckten Nutzwert.
Die digitale Transformation wird nicht von den Unternehmen selbst angetrieben. Der Vektor der Veränderung geht vom Nutzer aus, der gleichzeitig auch Co-Creator der Wertschöpfung ist. In der digitalen Welt wird der Wert oft von den Nutzern selbst generiert.
Transformationale Produkte verändern die Erwartungen der Nutzer an die gesamte Produktkategorie durch die Einlösung eines radikalen Nutzenversprechens. Der Ausgangspunkt ist immer der Nutzer, der durch das niedrigschwellige Ausprobieren eines Produkts überzeugt wird. Die Funktionalität des Produkts muss sich dem Nutzer vollständig von allein erschließen. Die Bindung zwischen Produkt und Nutzer ist am Anfang sehr locker und casual.
Transformationale Produkte bieten einen deutlichen Nutzenvorteil mit hoher Relevanz im Alltag der Konsumenten und damit wesentlich mehr als nur inkrementelle Verbesserungen. Kurz: Sie erledigen Dinge um eine Größenordnung besser, zum Beispiel zehnmal schneller, günstiger oder bequemer. Andernfalls wird die Trägheit der Nutzer dazu führen, dass sie beim gewohnten Produkt bleiben.
Der so realisierte Wert veranlasst Nutzer häufig dazu, diese Erfahrung mit Dritten zu teilen. Schließlich umfasst auch die Produktnutzung häufig die Integration von Nichtnutzern. Transformationale Produkte besitzen daher von sich aus eine gewisse Viralität. Das Marketing ist quasi ins Produkt eingebaut. Bei transformationalen Produkten fallen Produkt, Medium und Vertriebskanal zusammen: Sie sind alles drei gleichzeitig.
Wert entsteht für Unternehmen und Nutzer gleichermaßen erst bei einer Verhaltensänderung und steten Nutzung des Service. Transformationale Produkte besitzen daher immer einen zentralen Login als Ausgangspunkt für die Personalisierung und Konfektionierung der Dienste. Das Nutzerkonto hat auch strategische Bedeutung: Es ist der Ausgangspunkt für die Entwicklung von funktionalen und mentalen Einrastpunkten.
Wenn ein digitales Produkt im Leben der Menschen einrastet, sprechen wir von einem Lock-in. Dies kann ein mentaler Lock-in sein, wenn Nutzer bestimmte Aufgaben quasi per Autopilot erledigen. Lock-ins können aber auch funktional errichtet werden, indem immer mehr digitale Dienste mit dem Nutzerkonto verbunden werden. Bei Amazon etwa zementiert sich dieser Lock-in mit jedem neuen E-Book-Kauf.
Die Interaktion mit dem digitalen Produkt erfolgt über ein User Interface (UI), die Mensch-Maschine-Schnittstelle. Das Interface kann neben den heute vertrauten Ausprägungen wie Webanwendung oder mobile App noch viele andere Formen der Interaktion zwischen Nutzer und System annehmen, wie zum Beispiel Voice. Der Fortschrittsvektor in der Entwicklung von User Interfaces ist auf die stete Vereinfachung der Computernutzung gerichtet.
Die gesamte Produkterfahrung des Nutzers macht die User Experience (UX) aus. Der Fokus der Produktentwicklung muss beim Nutzer beginnen und das Nutzererlebnis in den Vordergrund stellen. Ein konkretes Nutzerbedürfnis muss aufgedeckt und in ein verteiltes System von Interaktionen zwischen Produkt und Nutzer übersetzt werden. Dabei geht es um alle Aspekte, die ein Mensch mit einem System erlebt. Generell gilt: Nutzen vor Ästhetik.
Transformationale Produkte greifen fundamental in tradierte Wertschöpfungsketten ein und erzwingen ein eigenes Businessmodell. Dieses muss das Potenzial besitzen, signifikante Umsatz- und Ergebnisbeiträge zu liefern oder mindestens bestehende Geschäftsmodelle robust abzusichern. Dies kann durch eine digitale Serviceschicht um ein etabliertes Produkt oder durch die Kreierung eines neuen Nutzens geschehen. Beides lässt sich auch kombinieren.
In jedem Fall braucht es Skalierung. Ein funktionierendes Geschäftsmodell zu finden, ist das eine. Es erfolgreich zu skalieren, ist eine zweite Herausforderung. Transformationale Produkte haben prinzipiell den Vorteil, dass sich ihre Skalierbarkeit mit verhältnismäßig geringem Aufwand an Zeit und Geld testen lässt: Auf hohe Kosten für die Softwareentwicklung folgen geringe Grenzkosten für den Betrieb in der Cloud.
Die Integration zusätzlicher Wertschöpfungspartner erfolgt über APIs. Transformationale Produkte müssen so entwickelt werden, dass sie von außenstehenden Entwicklern angepasst werden können und so auch unzählige Bedürfnisse und Nischen abdecken, die ursprünglich nicht im Fokus der Produktgestaltung gestanden haben. Durch die Abdeckung neuer Use Cases und die Vernetzung mit anderen Plattformen entsteht für die Nutzer zusätzlicher Wert.
Daten schließlich bilden die Basis für die Personalisierung der Dienste, insbesondere bei der Nutzung von AI-Methoden, und kreieren im Zusammenspiel mit der Integration von Drittdiensten eigenständige Wertbeiträge. Daten entstehen implizit in Co-Creation mit den Nutzern bei der Verwendung der Produkte. Je größer Datentiefe (auf den einzelnen Nutzer bezogen) und Datenbreite (Marktanteil), desto leichter können Produkte entwickelt werden, die sich fließend in den täglichen Aktivitätenstrom der Nutzer einklinken.
Der Fokus auf den Erfolgsfaktor Produkt zwingt die Unternehmen, sich auf den konkreten Wertschöpfungsbeitrag für ihre Kunden zu fokussieren. Gelingt die Entwicklung dieser Produkte erfolgreich, dann ändern sich Märkte und transformieren sich Unternehmen von allein. Jede Organisation schaut darauf, welche Produkte tatsächlich im Markt resonieren.
Wo die Zukunft des Unternehmens erkennbar wird, liegen auch die Karrierechancen der Mitarbeiter, und ihr Verhalten passt sich an die neuen Muster an. Die Wurzel der Veränderung liegt in der Kreation von nutzenstiftenden Produkten. Nur diese transformieren das Verhalten von Menschen – auf der Ebene einzelner Nutzer, von Märkten und schließlich von Unternehmen.
Matthias Schrader gehört zu den digitalen Pionieren in Deutschland. Er gründete Mitte der 1990er-Jahre SinnerSchrader und entwickelte E-Commerce-Lösungen für Start-ups wie Intershop, Ricardo und buecher.de, deren Produkte in kürzester Zeit börsenreif waren. 1999 ging SinnerSchrader selbst an die Börse und gehörte zu den wenigen Unternehmen, die den Neuen Markt nicht nur überlebten, sondern sogar gestärkt aus dieser Zeit hervorgingen. 2006 gründete Matthias Schrader die NEXT Conference, die sich innerhalb weniger Jahre als führende Konferenz für die Digitale Transformation in Deutschland etablierte. Heute unterstützt Matthias Schrader zusammen mit über 500 Beratern, Designern und Software-Entwicklern hauptsächlich DAX-Konzerne bei der Entwicklung digitaler Produkte.
Im Februar 2017 gab die weltweite Management- und Technologieberatung Accenture bekannt, SinnerSchrader für einen dreistelligen Millionenbetrag zu übernehmen.
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