Alle sind sich einig: Den Unternehmen, die perfekten Kundenservice leben und erlebbar machen, gehört die Zukunft. Ebenso einig ist man sich in Fachkreisen darüber, dass Digitalisierung, Automatisierung, Big Data und Analyse die Basis für traumhafte Customer Experiences darstellen können. Und wenn Chatbots, Tutorial Videos, IVRs und Selfservice-Apps versagen, dann gibt es eine Hotline mit Spezialisten. Dort wird einem geholfen. Soweit die Theorie.

Wie sieht das nun in der Praxis aus? Will der Kunde wirklich standardisierten Service, der Regeln befolgt, die sich mit Bots nachbauen lassen? Wie funktioniert Kundenservice, wenn Smartphone-Apps als einzige Schnittstellen zum Kundenservice der großen Marken fungieren? Welche Prozesse lassen sich automatisieren und wann sollte das rote Lämpchen im Servicecenter angehen, um den Kunden proaktiv zu helfen statt virtuelle Warteschleifen in Apps zu offerieren, um damit tollen Service mit hohem Servicelevel vorzugaukeln?

2019, Mitte Dezember, Samstagvormittag

Meine App schreibt mir via Push Notification: „Ihre Sendung mit der Sendungs-Nr. 12345678XYZ-123 liegt abholbereit in der Packstation Nr. 150, Westfälische Str.“

10 Minuten später stehe ich mit meinem Smartphone vor dem zerkratzten Touchscreen der 15 Meter langen und 2 Meter hohen Packstation und werde aufgefordert, meine Kundenkarte vor den Scanner zu halten. Ach ja – Mist, vergessen. Zurück zum Auto, Motor läuft noch, damit bei 2 Grad Celsius und Dauerregen die Scheiben nicht beschlagen, schließlich wartet mein hechelnder Hund auf der Rückbank auf sein neues Leuchthalsband, welches sich in diesem großen Kasten mit den vielen Fächern befindet. Dieses Halsband leuchtet nicht nur im Dunkeln, es übermittelt mir den Standort meines Pudels via GPS in meine Gassi-ohne-Leine-im-Wald-App. Nur noch schnell die Kundenkarte im Handschuhfach finden, wo ich alles außer Handschuhe verstaue.

Gefunden. Zurück zum Display. Warten. Ein anderer Abholer hat sich „vorgedrängelt“. Bitterkalt hier, aber es geht schnell. Viel schneller als an einem Postschalter mit mittelmäßig motivierten Postbeamten. 45 Sekunden später kreuzen sich meine Blicke mit denen des Vordränglers, und wir sind beide sichtlich begeistert von dieser genialen Einrichtung namens „Packstation“. Das Einscannen der Karte funktioniert wieder mal nicht. Das liegt wohl an dem zerkratzten Display, welches die LEDs des Scanners stören. Nach dem dritten gescheiterten Versuch bekomme ich den Hinweis, ich könne meine Kundennummer auch in der Smartphone-App ablesen und manuell eingeben. Ich hätte mir also den Weg ins Auto sparen können. Jetzt nur noch die Abhol-ID eingeben. Die Abhol-ID? Die steht doch eigentlich immer in der App genau unter der Sendungsnummer?! Dieses Mal aber leider nicht. Was nun? Warum steht die ID nicht da, wo sie sonst immer steht? App beenden und neu starten. Push-Notification: „Ihre Sendung mit der Sendungs-Nr. 12345678XYZ-123 liegt abholbereit in der Packstation Nr. 150, Westfälische Str.“ Klick – und schon bin ich in der App. Keine Abhol-ID! Der nächste Abholer wartet, das Auto läuft immer noch, nass, kalt und mein Hund wird nervös. Ich setze mich ins Auto und kämpfe weiter mit, oder ich sollte besser sagen, gegen die App. Ende vom Lied: Harakiri! Ich deinstalliere die App. Die Daten sind ja alle in der Cloud gespeichert, demnach sollte nichts verloren gehen und mit meiner Mail-Adresse und meiner Handynummer sollte ich meine Zugänge wieder hinbekommen. Aber ist meine Lieferung dann noch in der App und abholbereit? Nun ja, ohne Abholcode wird das ja eh nix. Zur Not lasse ich die Ware zurückgehen und bestell einfach nochmal. Diesmal dann an meinen Arbeitsplatz. In Berlin liefert Amazon innerhalb von zwei Stunden nach Bestellung. Oder habe ich ein Brecheisen im Auto? Ich bin gereizt. Die Installation der App funktionierte einwandfrei, dauerte aber ungewöhnlich lange. Wahrscheinlich lag das an meiner Edge-Internetverbindung hier, umzingelt von Parkhaus, Hochhaus, Tankstelle und Gewitterwolken. Login via Google-Account und schon ist alles wieder wie vorher: Push-Notification: „Ihre Sendung mit der Sendungs-Nr. 12345678XYZ- 123 …“ Keine Abhol-ID! Verflixt. Ich google nach „keine Abhol-ID“. Die Antworten, die ich finde, erklären viel, aber nicht, wie ich an mein Paket von Amazon komme. Soll ich aufgeben? Letzte Chance: Ich rufe den Kundenservice an. Warum wird die Telefonnummer des Kundenservices in den Apps immer so gut versteckt?

Gefunden. Zwar nicht anklickbar oder in den Zwischenspeicher kopierbar, dennoch ist die Servicerufnummer leicht merkbar. Somit habe ich sie manuell eingegeben. Begrüßungsmusik gefolgt von schier unendlich erscheinenden Optionen: „Drücken Sie die 1, wenn Sie…, drücken Sie die 2, wenn Sie…, drücken Sie die…“ Wie war das noch? Was muss ich am Handy drücken, damit ich die geforderten Nummern eingeben kann? Tasten haben die Dinger ja nicht mehr. Also zumindest keine Tasten im herkömmlichen Sinne. Nach drei Minuten in der Warteschleife erhalte ich den Hinweis, dass ich mich auch im Internet informieren kann und dass es wegen des Weihnachtsgeschäftes zu Verzögerungen bei der Zustellung der Abholcodes kommen kann. Man könne aber in der App manuell einen neuen Code anfordern. Aaaah. Genial. Die Lösung scheint nahe. Ich lege auf und suche eben diese Funktion in der App. Leider vergeblich. Bin ich zu doof? Eigentlich habe ich das doch ganz gut drauf mit den modernen Techniken, hier scheint es aber keinen logischen Ausgang bzw. Eingang zu geben.

Mein Handy klingelt.

„Guten Tag, mein Name ist Stephan Meier (Name von der Redaktion geändert) von dem Wir-behandeln-alle-Kunden-unterschiedlich-und-das-ist-auch-gut-so-Kundenservice (Name von der Redaktion geändert)“ – Was wollen die mir denn verkaufen und wo haben die meine Nummer her, frage ich mich.

„Stehen Sie noch vor der Packstation 150 in der Westfälischen Straße?“

„Ja, warum?“ antworte ich fast vorwurfsvoll. „Ich möchte mich für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, insbesondere, weil Sie ja schon über 5 Tage auf die Zustellung des Paketes warten. Das Weihnachtsgeschäft hat unsere Systeme an die Grenzen gebracht. Wollen Sie, dass ich Ihnen das Postfach von hier aus öffne? Schauen Sie bitte auf den Touchsrceen und geben Sie nochmals Ihre Kundennummer ein.

Ein Traum!

Am Abend bin ich mit meiner Pudelhündin und der Hundegruppe am Waldsee. Dieses Leuchthalsband ist ein echter Hingucker!

Epilog

An welcher Stelle des Textes der Traum beginnt, kann sich der Leser selber ausmalen. Ein bisschen Fantasie und die Hoffnung auf besonders gute Kundenerlebnisse sei allen gegönnt. Die Technik ist da, es bedarf des Umdenkens der Serviceverantwortlichen, dann wird‘s traumhaft! Ich bin mir ganz sicher, dass wir nicht auf Spezialisten bauen sollten, sondern dass wir Generalisten in den Callcentern brauchen, die den Gesamtprozess verstehen und sich in jeden Kunden mit den individuellen Bedürfnissen hineindenken können. Es bedarf neben Fach- und Entscheidungskompetenz auch ein kleines bisschen Mut, um gegen Standards zu verstoßen. Am Ende zählt der glückliche Kunde, der den Service als traumhaft bewertet. Alle anderen Kennzahlen sind nebensächlich und nur Indikatoren. Nun haben allerdings alle Kunden andere Träume und in genau dieser Individualität liegt der Casus knacksus. Das wird den Bots das Leben schwer machen. Der Bot wird den Servicemitarbeitern helfen, perfekten Kundenservice zu leisten, indem er die Next-Best-Action vorschlägt, jedoch wird es noch sehr lange dauern, bis Alexa mir die Packstation öffnet, oder? Durfte der Servicemitarbeiter mich ohne Opt-In eigentlich anrufen? Ach ja, war ja nur ein Traum…

Dennis Schottler, geboren 1969 in Hamburg, ist Herausgeber des Fachmagazins SQUT (steht für Service QUalität & Technik), Hobbyschauspieler und Synchronsprecher. Er lebt und arbeitet in Berlin. In seinen Podcast-Folgen auf Upspeak präsentiert er als Mentor Geschichten aus dem Leben rund um perfekten Kundenservice. Die Vision, an der das vor 10 Jahren gegründete Unternehmen der Schottler & Simon GmbH arbeitet, verlangt Servicemitarbeiter, die in der Einkommensklasse von Piloten oder Fachärzten mit Herzblut telefonieren. Mehr zu Dennis und seinem Pudel findet man unter:

www.desch-berlin.de

dschottler@schosimo.de www.schosimo.com

www.squt.de

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